Symposium: linke Spalte - Inhalt
Titel
Grußworte
Prof. Dr.
G. Machnik

Rektor der FSU Jena
Prof. Dr.
G. Wechsung
Dekan der Fakultät für Mathematik und Informatik
Prof. Dr.
O. Werner

Ernst-Abbe-Stiftung
Vorwort
Prof. Dr.
B. Zimmermann
Leiter der Abteilung Didaktik
Abstracts
und
Personalien der Referenten
Beiträge
Zur Abschluss-
diskussion
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Kreatives Denken und Innovationen in mathematischen Wissenschaften
interdisziplinätes Symposium an der Friedrich-Schiller-Universität Jena
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Zur Abschlussdiskussion

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Teilnehmer: Prof. Dr. Dress (Universität Bielefeld), Prof. Dr. Graumann (Universität Bielefeld), Dr. Heinrich (Universität Jena), Prof. Dr. Höhne (Technische Universität Ilmenau), Prof. Dr. Gabriel (Universität Jena), Prof. Dr. Kießwetter (Universität Hamburg), Prof. Dr. Rosin (Universität Frankfurt), Prof. Dr. Schäfer (Universität Jena), Prof. Dr. Spies (RWTH Aachen), Prof. Dr. Stoyan (Universität Erlangen), Prof. Dr. Zimmermann

Spies: Die Vorträge dieses Symposiums haben mir gezeigt, dass es zwischen der Kreativität in den Naturwissenschaften und Mathematik und der Kreativität in den Ingenieurwissenschaften viele Parallelen gibt. Der Austausch im Rahmen dieser Tagung hat mir viele Einsichten und Denkanstöße für meine weitere Arbeit gegeben.

Kießwetter: Die Tagung lief sehr harmonisch ab. Wir haben uns nicht gestritten und das hat mir sehr gefallen, denn so selbstverständlich ist das nicht.

Nachträgliche Bemerkung von Kießwetter:

Die Bezeichnung „Streit" ist nachfolgend von Stoyan und in dessen Gefolge von Spies und vielleicht auch von Dress und Gabriel anders als gemeint verstanden worden. Gemeint war von mir mit „Streit" keine auch noch so heftige sachbezogene Diskussion, sondern eine in das Persönliche hinein zielende Kontroverse.

(Stoyan bringt Enttäuschung darüber zum Ausdruck, dass man sich nicht gestritten hat.)

Spies: Ich möchte eine kleine Ergänzung machen. Dass es zwischen uns keinen Streit um Begrifflichkeiten und Ähnliches gab, lag sicherlich daran, dass wir über etwas gesprochen haben, von dem Psychologen sagen, es sei nicht definierbar. Als Wissenschaftler konnten wir über etwas Nichtdefinierbares auch kaum streiten.

Dress: Was den Streit angeht, kommen Sie einfach einmal nach Bielefeld. Dort finden Sie Beispiele für Streitereien, die so andernorts kaum vorkommen. Ich habe das hier nicht vermisst. Aber zurück zur Frage von Herrn Zimmermann:

Ich fand die zahlreichen, insbesondere von den Mathematikdidaktikern unter uns vorgestellten Beispiele sehr anregend. Ich würde gern lernen, wie man derartige Beispiele systematisch finden und entwickeln kann. Selbst wenn ich alle Ihre Beispiele selbständig erarbeitet hätte, so hätte ich trotzdem viel Mühe gehabt zu sehen, dass dies didaktisch interessante und wertvolle Probleme sind - Probleme, an denen man Schülerinnen und Schüler in der Schule mit Gewinn arbeiten lassen kann, an denen sie Mathematik lernen können. Einem Problem anzusehen, dass es sich für den Einsatz im Mathematikunterricht eignet, ist ja etwas ganz anderes, als es einfach einmal nur so zu bearbeiten. Insofern hat es mir die Fülle schöner und interessanter Beispiele besonders angetan.

Graumann: Als Mathematikdidaktiker möchte ich zunächst darauf hinweisen, dass man in der Diskussion zwischen den Fällen der Förderung von mathematisch Begabten außerhalb der Schule, der Förderung von mathematisch Begabten in der Schule und der Förderung von Kreativität in der Schule allgemein unterscheiden muss. Für den ersten Fall sind bisherige Aktivitäten, über die wir auch hier gehört haben, zu begrüßen, aber es sollte sicherlich noch mehr stattfinden. Für die Förderung mathematisch Begabter in der Schule wird sicherlich noch zu wenig getan, wobei es allerdings nicht die Aufgabe der Schule sein kann, Zulieferungswerkstatt für bestimmte gesellschaftliche Interessengruppen zu sein. Bezüglich der Förderung der Kreativität im Mathematikunterricht im Allgemeinen muss gesagt werden, dass hier noch eine wichtige Aufgabe für die Mathematikdidaktik vorliegt. Und zwar geht es dabei nicht um mehr Stoff, sondern um das eigentliche Ziel des Mathematikunterrichts in den allgemein bildenden Schulen, nämlich der Bildung von Menschen. Ein Aspekt davon ist auch die Förderung von Kreativität und Problemlösefähigkeit, Fähigkeiten, die auch unter dem Gesichtspunkt der komplexen Probleme in der gegenwärtigen und zukünftigen Welt von besonderer Bedeutung sind.

Der Mathematikunterricht kann weiterhin auch Fähigkeiten wie das Ordnen, Systematisieren und Analogisieren besonders gut fördern.

Die hier vorgestellten Ansätze dazu fand auch ich sehr anregend, und ich kann sie nur voll unterstreichen. Ich halte es für wichtig, durch solche Anregungen bei Lehrerinnen und Lehrern Freude und Mut zu offenerem Mathematikunterricht zu erzeugen. Ich selbst nehme auch Anregungen mit nach Hause. Ich arbeite auch an der Entwicklung solcher Szenarien im Rahmen eines Projektes über „Problemorientierung im Mathematikunterricht". Allerdings geht es mir dabei nicht so sehr um isolierte Probleme, sondern um Arbeiten in Projektfeldern, die eine Systematisierung erlauben. Es sei hierbei aber auch erwähnt, dass es bei der Umsetzung solcher Anregungen in die Schulpraxis natürlich noch Widerstände gibt, die nicht nur vordergründig sind.

Gabriel: Vielleicht kann ich etwas zu einem Streit beitragen. Als Außenstehendem hat mich die Betonung des Spielerischen in einigen Beiträgen gewundert, insbesondere wenn man an das Bild von der Mathematik in der Öffentlichkeit denkt. Ich kann mir gut vorstellen, dass man in Schwierigkeiten käme, wenn man in der Öffentlichkeit sagen würde, Mathematik sei doch ein Spiel. .... Viele der von Ihnen berichteten Beispiele waren recht interessant und witzig, und ich habe mich schon gefragt, wie man wohl auf eine Lösung kommen kann. Aber für mich hatten viele dieser Probleme den Charakter von mathematischen Knobeleien, um nicht zu sagen von Kreuzworträtseln. Rätsellösen, mit dem ich mich auch befasst habe, hat natürlich auch etwas Kreatives. Man kann ein Rätsel oftmals nur lösen, indem man einen kategorialen „switch" vornimmt, indem man die Lösung an einer ganz anderen als der vermuteten Stelle sucht. So etwas gibt es auch bei Problemlösungen in den Wissenschaften. Dennoch: Was mich wirklich gewundert hat, war die zumindest für mich zu starke Betonung des spielerischen Momentes, das klassische Problemlösen wurde in einigen Vorträgen, gerade auch in den didaktischen, in den Hintergrund gedrängt. Ich kann das gut verstehen, wenn man die Situation in der Schule vor Augen hat. Man sieht es auch daran, wie die jungen Leute mit dem Computer umgehen. Die wollen spielen. Es mag schon sein, dass man gerade in gewissen Altersstufen dieses spielerische Bedürfnis nutzen muss, um die ‚kids' zur Kreativität zu bringen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ‚Spiel' die Grundbestimmung kreativer Problemlösung ist. Damit hatte ich ein bisschen Probleme.

Hierzu folgender nachträglicher Kommentar von Kießwetter: Dieser Beitrag von Gabriel zeigt auf, dass einige Missverständnisse nicht abgebaut werden konnten - und zeigt - wie oben bei „Streit" - vielleicht auch ein sprachliches Problem auf, jetzt bezüglich des Wortes „Spiel".

Spies (an Didaktiker gewandt): Wenn ich das mal so sagen darf, sie haben schlechte Verkäufer, insbesondere was die Mathematik an der Grundschule und der Oberschule betrifft, nicht so sehr an der Universität, dort haben sie die Kunden schon gewonnen. Sie (Kießwetter) haben gesagt, nur wenige Verkäufer sind so, wie Sie sie gerne hätten. Also müssen sie Verkäuferschulungen machen. Alle ihre Beiträge lassen sich in das Bild der Verkäuferschulung oder Kundenwerbung fassen. Ich muss staunen, wie beispielsweise die wenigen Computerverkäufer das machen.

Höhne: Die Vorträge und Diskussionen dieser Tagung lieferten für mich zahlreiche Denkanstöße, wie Kreativität in der Ausbildung und in der wissenschaftlichen Tätigkeit unterstützt werden kann. Es zeigte sich, dass kreatives Denken in den unterschiedlichen, im Rahmen dieses Symposiums vorgestellten Fachdisziplinen wesentliche Voraussetzung erfolgreicher wissenschaftlicher Tätigkeit ist. Für die Mathematikausbildung von Ingenieuren enthielten mehrere Vorträge, beispielsweise die von Frau Hefendehl-Hebeker, Herrn Weth, Herrn Kießwetter und Herrn Winter nachahmenswerte Beispiele dafür, wie Kreativität beim Suchen nach Problemlösungen angeregt werden kann. Das Wechselspiel von (geometrischer) Veranschaulichung und (verbaler bzw. mathematischer) Abstraktion ist offensichtlich ein wirkungsvolles Verfahren und zugleich ein Kennzeichen schöpferischer Tätigkeit, das disziplinübergreifend zu trainieren ist.

Mein Eindruck ist aber unter anderem auch, dass Mathematik hier mit einem Glorienschein dargestellt wurde. Sie berichteten von einer Vielfalt von Gestaltungsmöglichkeiten, dagegen sieht die Realität „da draußen" offensichtlich etwas anders aus.

Meine Frage an Sie als Pädagogen und Didaktiker wäre: Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen Kreativität, schöpferischem Tätigsein und dem Erwerb einer fundierten umfangreichen Wissensbasis bezüglich des jeweiligen Tätigkeitsfeldes? Auch ihre Vorträge haben mir wieder bestätigt, dass man ohne ein gewisses Reservoir an konkreten Know-How, ohne ein grundlegendes Wissen nicht schöpferisch tätig werden kann. Und diese Voraussetzungen lassen sich möglicherweise nicht immer mit Spaß und Freude erwerben. Ich sehe dies auch in gewisser Analogie zu den Ingenieurwissenschaften: Man muss über grundlegende Kenntnisse der Maschinenelemente verfügen, sonst kann man gar nichts konstruieren.

Zimmermann: Genau dieses sequentielle Vorgehen „erst das Grundwissen - dann die kreativeren Teile" beinhaltet ein grundsätzliches Problem, da ja von Anfang an immer auch das Lernen mit gelernt wird. Wenn also zunächst der Fokus auf Routinen und „Bimsen" gelegt wird, dann wird damit auch ein gewisses Lernmuster angelegt, welches kreatives Verhalten vermutlich eher behindert. Daher scheint eine vernünftige Mischung beider Lernverfahren bzw. -inhalte günstiger: Erlernen und Üben sollte mit produktiven/kreativen Teilen durchsetzt werden, etwa wie von Frau Hefendehl-Hebeker vorgeschlagen.

Stoyan: Man lernt ja auch Regeln kennen, die beschreiben wie man Regeln ändern kann. Auch innerhalb von Regelsystemen kann man schöpferische Ideen haben. Hochbegabte haben da in der Regel keine Schwierigkeiten.

Schäfer: In der Physik findet Kreativität in der Auseinandersetzung mit dem Naturgeschehen statt, im unbedingten Willen, universelle Zusammenhänge aufdecken zu wollen. Im Wechselspiel von Theorie und Experiment (auch Gedankenexperiment) entzündet sich Kreativität. Wichtige Voraussetzung für echte Kreativität scheint mir der Zustand aktiven Leidens zu sein.

Religiöse Gefühle haben in der Berührung und Bemächtigung eines Unbekannten und Großen ihren natürlichen Platz. Kepler und Newton etwa waren sehr religiöse Menschen.

Nur die Mathematik zeigt, dass gewisse Vorstellungen konsistent sind und Bestand haben können, denken sie beispielsweise an den Welle - Teilchen - Dualismus und die Schwierigkeiten, die viele damit hatten und haben.

Die Mathematik ist unverzichtbar für den Aufweis physikalischer Naturzusammenhänge; nur durch sie erlangt man sicheres und widerspruchsfreies Wissen (z.B. Widerspruchsfreiheit der Speziellen Relativitätstheorie).

Dress: Ich wollte zum einen noch etwas zur Diskussion 'Spiel oder nicht Spiel' sagen und daran erinnern, was Friedrich Schiller im fünfzehnten seiner Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen zum Spiel sagt (und er kommt nicht von ungefähr zu seiner Auffassung) : 'Der Mensch ... ist nur da ganz Mensch, wo er spielt' (die Hervorhebung stammt vom Autor).

Gabriel: Dabei hat er aber nicht an die Mathematik gedacht.

Dress: Nein, aber ans Spielen. Wir reden hier ja über das Spielerische in der Mathematik. Ich denke, wir können das Spielerische an der Mathematik gar nicht stark genug betonen gegenüber all den anderen Eindrücken, die die Leute von der Mathematik aus ihrer Schulzeit haben.

Und nun zum zweiten Punkt, zu dem ich etwas sagen wollte, also zu der Forderung, wir sollten uns als 'Verkäufer' schulen lassen und Mathematik 'verkaufen'. Ich denke, man muss differenzieren, wem man etwas verkaufen möchte. Den Physikern Mathematik zu verkaufen, ist fast wie Eulen nach Athen zu tragen. Es hat immer schon, wie auch Herr Schäfer gerade gesagt hat, eine denkbar enge Kooperation zwischen Mathematik und Physik gegeben, die spätestens bei Archimedes beginnt.

In der Chemie, um eine weitere Naturwissenschaft anzusprechen, hat es eine ganze Weile gedauert, bis man gemerkt hat, dass man mit Mathematik wirklich weiter kommen kann. Immerhin weiß man aber schon seit einiger Zeit, dass Reaktionskinetik ohne Differentialgleichungen ein Buch mit sieben Siegeln bliebe. Aber auch das setzt sich erst so allmählich durch; ein Großteil der Chemiker beschäftigt sich eben nur dann mit Mathematik, wenn es ganz und gar unumgänglich zu sein scheint. Dass Chemiker zum Beispiel in ganz erheblichem Umfang Graphentheorie betreiben müssen, wenn sie alle im Prinzip denkbaren Bindungsstrukturen eines Moleküls mit einer gegebenen Anzahl von Atomen verschiedenen Typs bestimmen wollen, haben sie erst in den letzten ein, zwei Jahrzehnten akzeptiert. Aber da ist sicherlich ein Prozess im Gange, der, wie ich denke, der Mathematik weitere Kundschaft sichert. Nichtsdestotrotz müssen wir auf die Chemiker in geeigneter Weise zugehen, und das versuchen auch eine ganze Reihe von Mathematikern bereits seit geraumer Zeit.

In der Biologie ist die Sache vielleicht noch ein bisschen spannender, weil hier im Augenblick Daten im Übermaß produziert werden, insbesondere im molekularbiologischen Arbeitsbereich und ganz besonders bei der Genomsequenzierung. Da ist es ganz klar, dass man mathematische Verfahren, sprich Algorithmen, braucht, um mit diesen Daten fertig zu werden, um sie zu erschließen und zum Sprechen zu bringen. Hinzu kommt, dass in Biologie und Chemie mathematische Standardverfahren natürlich immer gebraucht werden, sie sind notwendiges Handwerkszeug. Ein Beispiel: Wie suche ich möglichst geschickt nach einer bestimmten Buchstabensequenz in einer riesig langen Buchstabenfolge? Wie muss ich dabei vorgehen, wenn ich mir Fehler erlaube? Wie kann man derartige Suchprozesse optimieren, usw.

Da wächst der Mathematik sozusagen Kundschaft aus vielen Richtungen entgegen, und es gibt auch deutlich Bestrebungen, diese zu bedienen. Wobei, in der Biologie weit mehr noch als in der Chemie, die Informatiker - zumindest zurzeit - die bei weitem erfolgreicheren Verkäufer sind. Sie verkaufen sich, indem sie verbreiten, die Mathematik sei kaum noch vonnöten, wichtig und brauchbar sei nur ihre Software.

Ingenieurwissenschaftler sind natürlich auch Kunden, um die wir uns kaum bemühen müssen, weil sie sowieso um die Notwendigkeit der Mathematik wissen. Beispielsweise ist der Umgang mit Computeralgebrasystemen (CAS) längst zum Standard auch in der Ingenieursausbildung geworden, und Ingenieurstudenten können mit CAS vielleicht besser umgehen als viele Mathematikstudenten. Das sind alles Kunden, die uns vielleicht nicht gerade die Tür einrennen, aber die uns doch sicher sind.

Die wirkliche Schwierigkeit ist, die Bevölkerung im Großen und Ganzen und deren Vertreter, die Politiker, davon zu überzeugen, dass es sich lohnt, etwas für die Mathematik zu tun. Darauf hat Hans Magnus Enzensberger, der mit seinem Buch 'Der Zahlenteufel' selbst bereits viel dafür getan hat, im vorigen Jahr auf dem internationalen Mathematiker-Kongress in Berlin eindrücklich hingewiesen. Da gibt es auch viele Bestrebungen; ich kenne eine ganze Reihe von Mathematikern, die sich dieser Sache annehmen, und an einigen Stellen gelingt auch etwas. Ein Problem ist jedoch, dass diese Mathematiker bei ihren Kollegen, die sich dort nicht engagieren, in den Verdacht geraten, die seien zu alt, zu faul und zu dumm geworden, um neue Theoreme zu beweisen, und produzieren sich nun auf einer einfacheren Spielwiese.

Es liegt auf der Hand, dass eine solche Einstellung seitens durchaus hochgeschätzter Kollegen die Lust, sich auf solche Aufgaben einzulassen, erheblich verringert. Das können sich also letztlich nur Mathematiker erlauben, die absolut souverän über dem Getuschel der Kollegen stehen, wie etwa Herr Grötschel in Berlin.

Eine Möglichkeit, 'Kunden ' für die Mathematik zu finden, die wir bisher überhaupt nicht hinreichend nutzen, ist die Mathematiklehrerausbildung. Wir müssen die Mathematiklehrer einfach besser ausbilden. Das muss aber von den Mathematikern vor Ort gemacht werden. Dass dies bislang noch nicht hinreichend begriffen worden ist, hat durchaus auch historische Gründe: Als ich noch in Tübingen studierte, galt das Staatsexamen als viel wertvoller als das Diplom, das war 1958. Es war auch schwieriger zu erlangen, und es gab damals ja auch, von der Versicherungsbranche einmal abgesehen, praktisch kaum eine andere Alternative als Lehrer zu werden, wenn man nicht promovierte, habilitierte und an der Uni blieb. De facto wurden fast alle, die Mathematik zu studieren begannen und diese später nicht an der Uni betreiben wollten oder konnten, Lehrer. Und das schlug später um. Nicht nur, weil durch den Computer neue Berufsmöglichkeiten für Mathematiker geschaffen wurden, sondern vor allem auch, weil plötzlich die Stellen für Lehrer alle besetzt waren und niemand mehr eingestellt wurde. Da liefen uns die Studenten weg: Als ich 1969 in Bielefeld zu lehren begann, gab es gut 200 Mathematik-Studenten, davon wollten 150 oder mehr das Staatsexamen machen. Ein paar Jahre später hatten wir 3 Staatsexamenskandidaten und insgesamt auch nur noch etwa 100 Studenten. Zur großen Freude unseres Dekans stieg diese Zahl dann in den nächsten Jahren wieder auf mehr als das Doppelte, nämlich auf 7. Inzwischen ist es wieder etwas besser; aber damals ist uns zum Beispiel Herr Kießwetter von der Universität Hamburg 'gestohlen' worden, und auf die Stelle, die er inne hatte, hat man einen tüchtigen jungen Mathematiker gesetzt, einen Algebraiker. Wir haben diese Stelle damals ganz bewusst umgewidmet. Wir meinten, die Lehrerausbildung könnten wir 'nebenbei mitmachen'; viel wichtiger sei es, einem jungen Mathematiker zu helfen, und im Übrigen hätten wir ja sowieso keine Lehramtsstudenten. Jetzt, da sich dies allmählich wieder ändert, wissen wir im Grunde nicht recht damit umzugehen.

Ein ernsthaftes Problem ist in diesem Zusammenhang natürlich auch die Neustrukturierung des Lehramtsstudiums. Wir haben ja, zumindest in Nordrhein - Westfalen, zwei gleichgewichtige Fächer plus Erziehungswissenschaften. Das heißt, ein Lehramtsstudent für die Fächer Mathematik und Physik studiert zu einem Drittel Mathematik, zu einem Drittel Physik und zu einem Drittel Erziehungswissenschaften. Die Didaktik der Mathematik ist allerdings nicht Bestandteil der Erziehungswissenschaften, - dafür haben die Erziehungswissenschaftler schon gesorgt - sondern sie ist Teil der Fachausbildung. Wenn man also in der Fachausbildung wiederum gerecht zwischen der didaktischen und der wissenschaftlichen Grundausbildung teilt, dann bleibt für die letztere im Grunde nur ein Sechstel übrig. Selbst wenn ein Student 6 Jahre studieren würde, was allerdings viel zu lang wäre, dann könnte man ihm im Grunde nur das beibringen, was ein Hauptfachstudent in drei Semestern lernt. Das erschwert natürlich auch für uns die Aufgabe, künftigen Mathematiklehrerinnen und -lehrern so viel Mathematik beizubringen, dass sie dieser Disziplin souverän genug gegenüberstehen können, um an ihr wirklich Freude zu haben. Der erziehungswissenschaftliche Anteil am Studium ist also meines Erachtens viel zu hoch, das muss - denke ich - dringend wieder geändert werden.

Graumann: Als Mathematikdidaktiker aus Bielefeld könnte ich einiges zu den eben gehörten Ausführungen sagen, aber ich möchte auf die aufgeworfenen Fragen eingehen.

Die Betonung des Spielerischen in den Vorträgen und in einigen Beiträgen dieser Diskussionsrunde darf nicht falsch verstanden werden. Es geht nicht darum, den Mathematikunterricht nur noch spielerisch zu gestalten. Nur in Bezug auf die gegenwärtige Situation in den Schulen und das weit verbreitete Bild von Mathematik geht es hier um eine stärkere Betonung dieses Aspektes. Es ist notwendig, dass sich das Bild von Mathematik und Mathematikunterricht ändert. Hier hat die Lehrerausbildung sicherlich eine wichtige Aufgabe zu erfüllen.

In Bezug auf die Frage, ob auch Fakten und Techniken gelernt werden müssen, kann ich nur sagen, dass dieses natürlich notwendig ist. Kreativität setzt immer auch ein gewisses Maß an Grundkenntnissen und -fertigkeiten voraus. Nur müssen diese nicht stur gepaukt werden. In der Didaktik wird seit über 20 Jahren z.B. das operative Üben, bei dem es um Vernetzung und Variation mit der Möglichkeit von Entdeckungen geht, propagiert. Auch muss man nicht alle Kenntnisse und Fertigkeiten erst einmal erlernen, um dann ganz am Schluss mit Problemaufgaben konfrontiert zu werden. Sondern auch in dieser Hinsicht ist ein Spiralcurriculum sinnvoll.

In Bezug auf die „Verkäufer", wie sie Herr Spies nannte, gibt es meiner Meinung nach einige Widerstände, die nicht ganz leicht zu überwinden sind. Einmal wird es bei der benötigten großen Menge von Lehrerinnen und Lehrern immer bessere und schlechtere geben. Zum Zweiten ist die klassische Paukmethode sowohl für die Lehrenden wie für die Lernenden bequemer und bietet mehr Klarheit bei der Benotung. Drittens wird der Mathematikunterricht seit über 150 Jahren als Hauptfach, neben Deutsch und vielleicht noch Englisch, zur Selektion benutzt, was seitends der nicht so Erfolgreichen zu negativen Einstellungen führt.

Diese Selektionsfunktion hängt auch teilweise am Bild des klassischen Gymnasiums und des Mathematiklehrers als Lehrer neuen Typs, wie es W. v. Humboldt entwickelt hat. ...

Damit komme ich zu einer weiteren Schwierigkeit: Mathematik ist ja ein Mittel zur abstrakteren Erfassung der Welt. Damit stößt sie bei vielen Menschen an die Grenze ihrer Vorstellungskraft. Dieses Problem können wir natürlich nicht beheben, denn das liegt in der Sache; Abstraktionsfähigkeit muss gefordert und gefördert werden. Als Didaktiker können wir lediglich den Weg dazu ein wenig ebnen, indem wir geeignete Anregungen für Erfahrungen mit Mathematik und zur Anknüpfung an anschauliche Vorerfahrungen anbieten.

Spies: Sie haben einen Vorteil: Durch das Kaufhaus Mathematik muss jeder gehen, jeder junge Mensch muss dort hinein. Und jetzt spreche ich wieder in einem Bild: Was würde passieren, wenn der Trainer eines Fußballvereins zu seinen jungen neuen Mitgliedern sagen würde: „Ja, zu allererst müsst ihr Konditionstraining machen."? Dann wären die alle sofort wieder weg.

Das Entdecken, das ich hier bei Ihnen kennen gelernt habe, entspricht ja schon dem Fußballspiel. Aber in der Schule fängt man mit einem langen Konditionstraining an. In dieser Richtung muss meiner Meinung nach einiges passieren.

Zu meinem alten Bild: Unternehmen, die Bausparverträge verkaufen, schulen ihre Verkäufer immer wieder und bringen sie auf den neuesten Stand. Nun haben Sie viel mehr Verkäufer, aber möglicherweise wäre eine Verkäuferschulung so alle 2 Jahre nicht unangebracht.

Kießwetter: Verkäufer nutzen die Dummheit der Leute aus, in der Schule sollte es um andere Anliegen gehen.

Aber ich möchte zurückgehen. Ich meine, wir sollten das Spielen in der Mathematik nicht abwerten, das ist keine Daddelei. Es gibt gewisse Analogien zwischen Mathematikbetreiben und Spielen, z.B. den Wechsel zwischen Anspannung, Entspannung, Anspannung, Entspannung usw. Offensichtlich bezeichnet „Spiel" hier etwas anderes als nur „Daddelei". Ist „Spielen" denn nicht vielmehr charakterisiert durch bestimmte gemeinsame und typische Eigenschaften solcher Prozesse?

Spies: Da bin ich vielleicht missverstanden worden. Das, was ich hier wahrgenommen habe, dieses Wechselspiel müsste verkauft werden. Sie sind die Denkzentrale des Konzerns, aber auch der letzte Verkäufer draußen müsste darin geschult werden, das Faszinierende, was ich hier erlebt habe, zu verkaufen.

Kießwetter: Aber unser Verkaufen ist nicht das von Fußballvereinen.

Rosin: Ich möchte noch einmal zur Schule zurück. Was will denn die Gesellschaft? Wir brauchen 20% Führungskräfte und davon 10% kreative Menschen, dann haben wir für die Gesellschaft und für die weitere Entwicklung der Gesellschaft genug. Ich denke, dieser humanistische Anspruch, dass alle und jeder kreativ sein soll, der zieht überhaupt nicht. Schule hat heute eine ganz andere Funktion.

Wie kann denn die Gesellschaft Grundschullehrer ausbilden, die über ihr Abitur hinaus keine einzige Stunde Mathematik gehört haben? Und da steckt das Problem. Wir müssen versuchen zu erreichen, dass Grundschullehrerausbildung eine andere Ausbildung wird als sie jetzt ist. In die Grundschule gehören Leute, die einerseits etwas von Mathematik verstehen und andererseits in der Lage sind, mathematisches Denken einigermaßen transparent zu machen und zu vermitteln.

Ich denke auch, dass das, was wir für den Unterricht wünschen, einfach durch die derzeitigen schulischen Zwänge teilweise verhindert wird. Der Lehrer muss am Ende des 3. Schuljahres festlegen, welche Laufbahn jeder einzelne Schüler einschlagen soll. Da kann er gar nicht die Zeit haben, über mögliche spielerische oder kreative Elemente des Unterrichts nachzudenken. Er ist gezwungen, klare, harte Daten zu liefern.

Höhne: Ich möchte noch auf einen anderen Faktor aufmerksam machen: Es findet derzeit in der Konstruktionspraxis ein Umbruch statt. Die klassische Arbeitsweise wird zunehmend durch eine computerorientierte ersetzt. Die Reißbretter sind weg, ein ganz bedeutsames Hilfsmittel zum Modellieren von technischen Zusammenhängen hat sich grundlegend geändert.

Es wird zunächst ein vollständiges Modell im Rechner erzeugt, es wird angestrebt, den gesamten Lebenszyklus des technischen Gebildes vor seiner Fertigung zu simulieren und entsprechende Produkteigenschaften zu optimieren. Virtuelle Produktentstehung, Digital Mock up, Virtual Reality, Rapid Prototyping sind Stichwörter für diese neue Technologie der Entwicklung und Konstruktion.

Das Erarbeiten der Modelle ist für Ingenieure eine Aufgabe, die Fähigkeiten der Abstraktion, Manipulation geometrischer und physikalischer Zusammenhängen in Verknüpfung mit numerischen Lösungsverfahren erfordert. Diese Entwicklung sollte bei der Vermittlung der mathematischen Grundlagen, der Informatik und der Methoden für Ingenieure berücksichtigt werden. Hier sehe ich auch eine Aufgabe für die Zukunft.

Gabriel: Lassen sie mich noch einmal auf den Begriff Spiel zurückkommen.

Ich unterrichte u. a. Logik. Die Logik ist ja in gewisser Form Mathematik, oder wird doch von einigen für Mathematik gehalten. Ich käme ehrlich gesagt nicht im Traume auf die Idee, meinen Studenten zu sagen, jetzt lasst uns spielen! Damit wir uns nicht missverstehen: Ich bin natürlich überhaupt nicht gegen das Spiel und Schiller hat mit seiner Bemerkung etwas ganz richtiges getroffen, aber Schiller denkt hier im Anschluss an Kant an das ‚freie Spiel', nicht an ein Spiel nach Regeln. Wenn man schon das Spielerische betont, dann handelt es sich in der Mathematik um ein Spiel nach Regeln. Und wenn man dies betont, dann muss man sich die Frage nach dem Besonderen unter all den vielen Spielen gefallen lassen. Es ist ja beispielsweise auch diskutiert worden, warum Schachspielen kein Schulfach ist. Ich hätte überhaupt nichts dagegen, ich könnte dieses Fach sogar unterrichten.

Das eigentliche Problem ist doch folgendes: Wenn man das Spielerische so betont, dann muss man der Kunst mindestens dasselbe Deputat einräumen wie der Mathematik. Und in dem Fall möchte ich mal die Mathematiker hören, die dann leugnen, dies jemals so gesagt zu haben.

Gerade die freie Kunst kann als notwendiges Komplement zu dem Regelgeleiteten, Exakten der Mathematik angesehen werden. Einige Leute äußern ja sogar Befürchtungen, die Mathematik würde die Kreativität zunichte machen. Sie sind der Meinung, Kreativität müsste ganz anders erzeugt werden als durch geregeltes Spiel wie in der Mathematik. Dies ist doch der eigentliche Konflikt. Ich denke, wenn man das Schillersche Moment betont, muss man sich an anderer Stelle, wenn es um das Gesamtbildungsprogramm geht, auch für die Kunst stark machen - und dies vielleicht zu Ungunsten der Mathematik. Unter Rekurs auf den Spielcharakter lässt sich nicht rechtfertigen, warum der Mathematik flächendeckend eine solche Bedeutung eingeräumt wird.

Dies lässt sich nur mit Blick auf den technischen Nutzen rechtfertigen.

Mit Kant haben wir die Idee aufgegeben, dass der Künstler wie der Handwerker jemand ist, der nach Regeln etwas schafft. Trotzdem, der Künstler ist natürlich nicht jemand, der einfach „herumspinnt", in diesem Punkt sind wir uns völlig einig. Nur lässt sich das Gelungensein des Produktes nicht nach Regeln bestimmen.

(An Kießwetter gerichtet:) Sie haben in der Kunst keine Regeln, die zu entscheiden erlauben, ob ein Kunstwerk gelungen ist oder nicht. Sie haben im Gegensatz dazu in der Mathematik ein Beurteilungskriterium dafür, ob die Aufgabe gelöst ist oder nicht. Das ist doch vollkommen klar.

(Nach einem Einwand von Kießwetter) Dann müssen wir die anderen Spiele, die keinen Regeln folgen, auch zulassen. Kunst statt Mathematik! Ich meine, dies ist ja gar nicht meine Meinung, nur, wenn Sie Streit wollen, können Sie ihn sofort bekommen.

Dress: Wir können den Wert einer mathematischen Aussage nicht nach eindeutigen Regeln beurteilen, genauso wenig wie den Wert eines Kunstwerkes. Wir können feststellen, ob das Bild bunt ist oder welche Farben darauf zu sehen sind, und so kann ich feststellen, ob der Beweis richtig oder falsch ist. Aber ob etwas sinnvolle und interessante Mathematik ist, dafür muss ich ein Gefühl entwickeln, genauso wie ich ein Gefühl dafür entwickeln muss, ob ein Bild gelungen ist oder nicht. Der Spielbegriff, den ich hier benutze, ist keineswegs der von einem Spiel nach Regeln. Ich wüsste gern, nach welchen Regeln ich eigentlich spiele. Wenn ich beim Arbeiten an mathematischen Fragen nicht spielerisch verfahren dürfte, sondern festgelegten Regeln folgen müsste, dann machte das sicherlich überhaupt keinen Spaß mehr, und es käme auch kaum etwas Ordentliches dabei heraus. Gerade dass es keine Regeln gibt, macht das Ganze so reizvoll.

Dress: (Nach einer Bermerkung von Schäfer)Also in der Kunst kann ich ja statt Theater auch Antitheater machen, aber das ist ja auch eine Form von Theater. In der Mathematik kann ich statt des Kosinussatzes nicht den Antikosinussatz erfinden und benutzen. Wenn ich Farben einer bestimmten Textur auf eine Leinwand bringen will, muss ich auch die notwendigen Techniken beherrschen. In aller Regel kann ich eben gerade nicht einfach die Öltube nehmen und auf der Leinwand auspressen; manchmal muss ich allerdings vielleicht gerade das tun.

Ganz ähnlich ist es in der Mathematik. Begonnen habe ich Mathematiker zu werden, als ich in der Kirche meines Vaters sitzen musste, während er sonntags predigte. Das einzige Spielmaterial, das ich hatte, waren die Zahlen der Gesangsbuchlieder, die an großen Tafeln an den Pfeilern hingen. Mit denen konnte man etwas anfangen, sie zerlegen, addieren, Quersummen bilden, man konnte alles Mögliche mit ihnen machen. Ich habe da ganz brav auf der Kirchbank gesessen, und kein Mensch hat das gemerkt. Ich habe damit ein mathematisches Training hinter mich gebracht, das mich später vermutlich dazu befähigt hat, mich in aller Ruhe solange auf eine Sache zu konzentrieren, bis ich etwas erkenne. Und ich denke, dass mir das später sehr geholfen hat.

Spies: Ich möchte sie bitten, an dieser Stelle einen Schnitt zu wagen. Wir haben in den vergangenen Tagen viel über Kreativität gesprochen. Ich möchte jeden Einzelnen bitten, mit den Kollegen, die sich ja alle mit Kreativität befassen, kurz zu diskutieren, und ihre Meinung darzulegen, was sie unter Kreativität verstehen.

Heinrich: Zunächst einmal muss gesagt werden, dass eine Begriffsbestimmung ganz und gar nicht einfach ist. Zwar sind seit mehr als 100 Jahren in vielfältiger Weise Versuche unternommen worden, das Phänomen zu charakterisieren, doch ist man derzeit weit von einer einheitlichen Begriffsfassung entfernt. Ich bin der Meinung, dass wir in dieser Diskussionsrunde diesbezüglich auch keinen Konsens finden werden.

Häufig werden in der einschlägigen Literatur, soweit sie mir bekannt ist, folgende Kriterien für eine Charakterisierung von Kreativität herangezogen:

· Die Neuheit des Produkts; dabei unterscheide ich zwischen einem kreativen Produkt ersten Art (absolut neu, steht in der öffentlichen Diskussion) und einem kreativen Produkt zweiter Art (neu für den, der es hervorgebracht hat). Wir als Mathematikdidaktiker haben natürlich besonderes Interesse an der Erzeugung von kreativen Produkten zweiter Art.

· Die Sachadäquatheit des Produkts (es soll sachgemäß sein).

· Die Originalität des Produkts (wobei dieser Begriff z. T. synonym für Neuheit steht, andere Personen sehen darin eher Aspekte von Seltenheit und damit ein gewisses eigenständiges Kriterium).

Forschungen und Betrachtungen zum Phänomen Kreativität können natürlich nicht nur das Produkt selbst berücksichtigen, sie müssen vielmehr auch damit im Zusammenhang stehende Faktoren wie die Person, die die kreative Leistung erbringt, die Umgebungsvariablen und vor allem den Prozess selbst einbeziehen.

Spies: Was bedeutet originell in diesem Zusammenhang?

Kießwetter: Wenn in einer Gruppe von 20 Leuten jeder für sich an einem bestimmten Problem arbeitet und 19 finden die Lösung A und einer die Lösung B, dann ist B in dieser Gruppe originell.

Spies: Ich meinte eher den Prozess als das Produkt.

Dress: Mathematische Arbeit ist 'kreativ', wenn sie beginnt, sich unvoreingenommen auf die den thematisierten Fragen zugrundeliegenden Phänomene einzulassen. Aus den Fragen müssen bestimmte, möglichst nicht unmittelbar auf der Hand liegende Zusammenhänge erfahrbar werden. Zum Beispiel: Welche Primzahlen sind Summen zweier Quadrate? 5 ist gleich 1+4, 7 und 11 sind keine Quadratsummen, 13 ist gleich 4+9 usw. Zu bemerken, dass dies damit zusammenhängen könnte, welchen Rest die Zahlen bei der Division durch 4 lassen, das ist schon zweifelsfrei eine kreative Leistung. Dann hat man aber noch keinen Beweis, und der ist auch gar nicht trivial, dazu gehört ein bisschen Vorbereitung. Sich aber auf eine solche Frage so einzulassen, dass aus dieser Arbeit etwas Gültiges und Neues entsteht, das ist der kreative Vorgang. Mir fällt dazu eine Geschichte ein, die in die Welt des Zen-Buddhismus gehört. "Der Kaiser kommt jedes Jahr einmal in eine Provinzhauptstadt, in der auch ein bekannter Maler lebt. Er möchte von diesem einen Hahn gemalt bekommen. Der Maler stimmt zu und verspricht, das Bild beim nächsten Besuch zur Hand zu haben. Ein Jahr später fragt der Kaiser nach, und der Maler muss sich entschuldigen, er sei mit dem Bild leider noch nicht fertig geworden. So geht es über mehrere Jahre; zunächst ist der Kaiser geduldig, später immer ungeduldiger und schließlich droht er mit dem Henker, falls das Bild nicht im kommenden Jahr zur Stelle sein sollte. Im folgenden Jahr kommt der Kaiser wieder in die Stadt, bereits vom Henker begleitet. Der Maler bittet den Kaiser in die Werkstatt, bittet ihn Platz zu nehmen und zeigt ihm ein leeres Blatt Papier. Der Kaiser will schon nach dem Henker rufen, da nimmt der Maler einen Stift in die Hand und zeichnet im Handumdrehen einen wunderschönen Hahn. Jetzt ist der Kaiser erst recht düpiert. Warum muss er jahrelang auf etwas warten, was der Maler offenbar in Sekunden fertig bringt? Als er sich jedoch gerade beim Maler beschweren will, zieht dieser alle Schubladen in seiner Werkstatt auf und heraus quellen Bilder über Bilder über Bilder von Hähnen. Ist das ein kreativer Vorgang, was da passiert ist, ein kreativer Prozess? Manche Leute mögen nur das Einüben einer Routine darin sehen; andere werden dagegen sagen, dies sei etwas enorm Kreatives, was da geschildert worden ist, zugegeben im Bereich der Kunst, aber dem sich Abmühen des Mathematikers sehr verwandt.

Spies: Das Erkennen des Problems ist auch kreativ.

Höhne: Die für den Entwurf innovativer Produkte erforderliche schöpferische Leistung ist durch folgende Merkmale gekennzeichnet:

1. Die Aufgaben- bzw. Problemstellung ist so formuliert, dass ihre Lösung über den bekannten Stand der Technik hinausgeht.

2. Der Lösungsweg ist nicht bekannt. Er muss bei der Problembearbeitung gefunden werden.

3. Das Ergebnis ist ein innovativer Entwurf, der sich von bereits bekannten Lösungen abhebt.

Auch einzelne gedankliche Aktivitäten, die zu Ergebnissen der drei Bestandteile schöpferischer Prozesse beitragen, sind als kreatives Denken und Handeln zu betrachten.

Kießwetter: Das übliche „wissenschaftliche" Definieren durch die Angabe einer Zusammenstellung von ebenfalls vagen Ersatzbegriffen ist insbesondere für die Praxis sinnlos. Dort braucht man Entscheidungsverfahren, welche dann in der Regel nicht nur den Output 1 oder 0 (kreativ oder nicht kreativ) liefern, sondern dazwischen auch eine unvermeidbare Zone von vielleicht 10% haben, wo sie nicht 0 oder 1 zuordnen können. Man muss dabei dann auf die simple zweiwertige Logik verzichten.

Schäfer: In der buddhistischen Geschichte vom Zeichnen eines Hahnes geht es meines Erachtens um das Schaffen des definitiv Gültigen (echte Kreativität). Dazu war sowohl harte Vorarbeit als auch eine überpersönliche Ausnahmesituation notwendig. Aktives Leiden war da sicherlich mit im Spiel.

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Nachträglicher Diskussionsbeitrag von Kießwetter:

„Spielerisches Agieren und ernsthaftes Bemühen sind in kreativen Prozessen nicht Gegensätze, sondern arbeiten Hand in Hand."

Insbesondere die Tagungsbeiträge der Mathematiker und Mathematikdidaktiker bezogen sich immer wieder und eingehend auf Spiele und spielerisches Verhalten. Gegen das dabei vorgenommene intensive Verknüpfen von (ernsthafter!) Mathematik und Spiel gab es dann bei der Abschlussdiskussion - nach meiner Erinnerung allerdings nur von Teilnehmern, die im engeren Sinn keine Mathematiker sind - vehement vorgetragene Vorbehalte. Auf diese Vorbehalte bezieht sich der folgende nachträgliche Diskussionsbeitrag.

Will man möglichst allgemeingültige Aussagen erhalten, so sollte man sich zunächst einmal aus der Enge von egozentrischen, den eigenen Erfahrungshintergrund unzulässig verallgemeinernden Betrachtungsweisen befreien (ein allerdings nicht einfaches und auch nicht vollständig lösbares Unterfangen). Unsere Sprache ist das evolutionäre Ergebnis von Beschreibungs- und Modellierungsanstrengungen der ganzen deutschen Kulturgemeinschaft und vieler Generationen. Es macht deshalb besonderen Sinn, dort nachzusehen, was gemeinhin unter „Spiel" und „Spielen" verstanden wird. In dem durch die Vorbehalte vorgegebenen Zusammenhang konzentriere ich mich dabei auf das in Ernsthaftigkeit eingebettete Spielen.

Nachfolgend dazu ein aus einem solchen Nachsehen resultierendes und bezüglich der enthaltenen Überlegungen und Aussagen von mir sehr ernst gemeintes kleines Sprachspiel:

Die zentrale Frage ist für mich zum einen „Welche Rolle spielt das spielerische Agieren bei kreativen mathematischen Produktionsprozessen ?" und zum anderen „Sollten spielerische Momente bei der Initiierung von solchen Produktionsprozessen provoziert werden? - und wenn ja: wie?" In meinem Tagungsbeitrag habe ich deutlich gemacht, was sich abspielt, wenn man dem spielerischen Agieren nicht die ihm zustehende Rolle zugesteht. Beispiele für das daraus dann in der Regel offensichtlich unvermeidlich entstehende - und schließlich dominierende - Rezeptieren können in beliebiger Zahl beigebracht werden und passen gut zu einem in unserer (Presse-) Öffentlichkeit weitgehend üblichen Bild vom Lehrenden als geschickten Verkäufer und ökonomisch denkenden Transportunternehmer für Wissen.

Man findet in unserer Sprache noch viele weitere Konstellationen, wo ernsthaftes Bemühen und Verhalten mit Hilfe des Wortes „Spiel" wie selbstverständlich formuliert und richtig verstanden wird:

In Theoriebildungsprozessen gibt es das Wechselspiel zwischen dem Aufstellen und dem Abtesten von Hypothesen - Mienenspiele kann man nicht nur in komischen Opern, sondern auch bei schwitzenden Bergsteigern und in Trauersituationen beobachten. - Symphonieorchester spielen mit großer Anstrengung und Disziplin klassisch-ernste Musik von Bach oder Schubert - und diese nicht immer in der gleichen Spielweise. - Und auch das böse Spiel, zu dem man gute Miene machen kann, sollte man ernst nehmen.

Von Johan Huizinga stammt das Buch „Homo Ludens - vom Ursprung unserer Kultur im Spiel" (Leiden 1938 / Rowohlt TB 1956), dessen Lektüre im Zusammenhang mit unserer Thematik sehr zu empfehlen ist, da es aus der Fülle der angesprochenen Bezüge immer wieder eine neue und verblüffende Sicht der Art und Weise spielerischen Agierens und damit neue Denkanstöße liefert. Für Huizinga (und auch für mich!) ist spielerisches Agieren nicht nur angenehmes Beiwerk, sondern fundamental für die Entwicklung unserer Kultur. Dazu ein Zitat aus Huizingas Einführung in sein Buch:

„Seit langer Zeit hat sich bei mir die Überzeugung in wachsendem Maße befestigt, dass menschliche Kultur im Spiel - und als Spiel - aufkommt und sich entfaltet".

In unserer modernen Welt sind Nobelpreisträger die wie selbstverständlich akzeptierten Autoritäten mit besonderer Kompetenz für Denkprozesse, die zu ganz besonders wertvollen neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen führen und in diesem Sinne wesentliche Bedeutung für die Entwicklung unserer Kultur haben.

Auf Gerd Binnig, Physik-Nobelpreisträger von 1986, habe ich mich schon in meinem Tagungsbeitrag bezogen. Hier ein weiteres kritisches Zitat aus seinem Buch „Aus dem Nichts - über die Kreativität von Natur und Mensch" (München 1992), das in unserem Zusammenhang ebenfalls besonders nachdenkenswert ist: „Es kommt mir sogar vor, als ob viele Professoren ein spielerisches Umgehen mit dem Stoff geradezu als kindisch oder als Zeitverschwendung betrachten." (S. 14)

Manfred Eigen, Chemie-Nobelpreisträger von 1967, veröffentlichte zusammen mit Ruthild Winkler das Buch „Das Spiel - Naturgesetze steuern den Zufall" (München 1975). Ich zitiere aus dem Vorwort und überlasse es dem Leser, aus den Zitaten unmittelbar Schlüsse zu ziehen oder - noch besser - diese zum Anlass zu nehmen, sich eingehender mit diesem Buch zu befassen:

„Ausgangspunkt für unsere Überlegungen waren die vor einigen Jahren ausgearbeitete Molekulartheorie der Evolution sowie die im Zusammenhang damit entwickelten Spielmodelle zur Simulation naturgesetzlicher Erscheinungen wie Gleichgewicht, Selektion und Wachstum. .... Worauf es uns ankommt, ist, das Spiel in seiner Metamorphose und seiner Symbolhaftigkeit darzustellen und im Lichte seiner alternativen Aspekte unser Weltbild und die existierenden Weltanschauungen zu reflektieren." - „Wir sehen das Spiel als das Naturphänomen, das in seiner Dichotomie von Zufall und Notwendigkeit allem Geschehen zugrunde liegt. Damit gehen wir in unserer Interpretation weit über das hinaus, was Huizinga ihm in seiner auf den Menschen zugeschnittenen Rolle zuerkennt." - „Wir sollten begreifen: Der Mensch ist weder ein Irrtum der Natur, noch sorgt diese selbstverständlich und automatisch für dessen Erhaltung. Der Mensch ist Teilnehmer an einem großen Spiel, dessen Ausgang für ihn offen ist. Er muss seine Fähigkeiten voll entfalten, um sich als Spieler zu behaupten und nicht Spielball des Zufalls zu werden."

1994 erhielt Reinhard Selten den Ökonomie-Nobelpreis. Er leistete einen wesentlichen Beitrag dafür, mit Hilfe der mathematischen Spieltheorie Situationen zu verstehen und in den Griff zu bekommen, in denen menschliche oder nichtmenschliche Spieler (Tiere, Pflanzen, Unternehmen usw.) nach gewissen vorgegebenen Regeln miteinander oder gegeneinander spielend agieren - um das Überleben, um Geld, um Einfluss usw. In unserem Zusammenhang ist besonders wichtig, dass dabei offensichtlich auch die Generierung neuer Ideen als Bestandteil von Spielen aufgefasst und verstanden wird.

Das Berufen auf Nobelpreisträger ist natürlich eine Art von Holzhammermethode (und eine solche ist leider auch im so genannten wissenschaftlichen Bereich gelegentlich unvermeidbar). Zudem sind in den Zitaten eher globale Aspekte angesprochen. Mir selbst geht es jedoch primär - der didaktischen Verwendbarkeit wegen - um eine wesentlich größere Auflösung, um lokale Aspekte und dabei insbesondere um den spielerischen Aufbau eines sinnvollen Assoziationsfeldes, aus dessen Fülle sich dann Anregungen und Anbindungsmöglichkeiten für die weitere - Neues produzierende - Arbeit und zudem ein gewisser Überblick über die vorhandene Komplexität ergeben. Eine solche gewünschte und für das Verständnis der einschlägigen kognitiven und „psychologischen" Prozesselemente nötige hohe Auflösung von hochkomplexen kreativen Theoriebildungsprozessen ist in der Literatur nur sehr selten zu finden, im mathematischen Bereich jedoch glücklicherweise zumindest in einigen Büchern von Pólya, und innerhalb der oben angegebenen oder angedeuteten Veröffentlichungen in gewisser Weise auch bei Binnig - wobei sich dieser offensichtlich außerdem auch noch ein prinzipielles Unbehagen über kreativitätsverhindernde Vorgaben in unserer derzeitigen Bildungs- und Wissenschaftslandschaft von der Seele geschrieben hat.

Analoge Konstellationen bezüglich des spielerischen Agierens beim Aufbau lokaler kreativitätsfördernder Assoziationsfelder gibt es u.a. auch in der Musik. Man kann z.B. darüber spekulieren, ob Smetana sein erstes Leitmotiv für die „Moldau" in einem derartigen Assoziationsfeld rund um „alle meine Entlein schwimmen auf dem See" gefunden hat. Man kann auch an die Variationen von Mozart über „unser dummer Pöbel meint" (eine Melodie von Gluck) denken - oder an die früher übliche Freiheit der Solisten für die Improvisation von Kadenzen in Klavier- oder Violinkonzerten. Bezüglich der Musik gilt aber leider wie bei der Mathematik:

Das gute Gespür für die Möglichkeit des Erspielens eines Assoziationsfeldes und für dessen „kreativen Reichtum" an sich daraus ergebenden Produktionsmöglichkeiten für neuartige Produkte muss sich jeder selbst und äußerst mühevoll erarbeiten.

Ich wähle deshalb einen anderen und für den Leser leichter zugänglichen Bereich, muss dafür aber in Kauf nehmen, Abstriche hinsichtlich der Reichhaltigkeit und Genauigkeit der Analogie zu machen.

Die Ausgangssituation ist die Scheidung eines etwa 50-jährigen Ehepaares, dessen Kinder ihre Ausbildung gerade beendet haben. Dazu einige wenige Hinweise auf ein mögliches Assoziationsfeld, aus dem dann ein begabter Poet die Anregungen für einen Roman, eine Parabel, ein Theaterstück usw. gewinnen kann:

Man kann das Drumherum um die Scheidung aus der Sicht der Kinder, oder der Sicht der Frau, oder des Mannes, oder der Rechtsanwälte, oder des Richters, oder der Nachbarn usw. betrachten - und hat bezüglich dieser Personen zudem noch die Auswahl zwischen ganz verschiedenen Typen von Menschen (einfühlsam, moralistisch, ...). - Man kann das vom Partner A ausgehende Scheidungsverfahren auf ein Auseinanderleben zurückführen, dessen Anlass die Änderung von B ist, man kann die - dann vermeintliche - Änderung von B aber auch darin begründen, dass sich A und seine Bewertungsmaßstäbe geändert haben. - Man kann die Scheidung auf die Zunahme des „selbstverwirklichenden Egoismus" in unserer Gesellschaft beziehen, in der immer mehr für sich erwartet und immer weniger - z.B. im christlichen Sinne - an andere weitergegeben wird. - Man kann sich aber auch auf eine - abartige - Vorbildhaftigkeit hinsichtlich der Scheidungsrekorde einer gewissen im Fernsehen und in der Presse dauernd gegenwärtigen „Prominenz" aus Schauspielern, Politikern usw. beziehen. - Einer der beiden Ehepartner kann mit zunehmenden Alter immer mehr dominieren wollen, sodass der andere Partner ausbricht, wenn die Kinder selbständig und gefestigt genug sind. - .... usw. ....

So wie hierbei ein gedachter Poet würde auch der kreative Mathematiker sein spielerisch geschaffenes lokales Assoziationsfeld nach geeigneten Anbindungsmöglichkeiten durchforsten. Wünschen wir den beiden, dass sie sich ihr Assoziationsfeld schon im ersten Anlauf so reichhaltig gestaltet haben, dass sie bald fündig werden!

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  Letzte Änderung: 27 June 2006 11:12:08. Michael Schmitz