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Friedrich-Schiller-Universität Jena
1. EinleitungMathematiklehrer und -didaktiker haben sich schon oft darum bemüht, Elemente aus der Geschichte der Mathematik in ihre Lehrkonzepte einzubeziehen. Anekdoten sowie interessante historischen Aufgaben und Problemen sind Beispiele für derartige Elemente. Vom Mathematiker Toeplitz 1972 wurde ein Zugang zu Inhalten heutiger Mathematik vorgestellt, der sich an deren historischen Entwicklung orientiert. Man spricht auch von der historisch-genetischen Methode. Derartige Zugänge scheinen mir in vielfältiger Weise ausbaufähig und modifizierbar. Faßt man das Studium der Geschichte der Mathematik
auch als eine motivations- und kognitionspsychologische
Langzeitstudie auf, so können sich hieraus zusätzliche „Verstehensfolien"
für das mathematische Denken von Schülerinnen und Schülern sowie zusätzliche Orientierungsgesichtspunkte
für die Gestaltung heutigen Mathe- matikunterrichtes ergeben. (1) Welche Motive erwiesen sich im Laufe der Geschichte immer wieder als stimulierend für die Produktion neuer Mathematik?[1] (2)
Welche
heuristischen Methoden, d. h. dem
Erfinden förderliche Denkwerkzeuge, erwiesen sich in der Geschichte der Mathematik als besonders fruchtbar? Auf diese Fragen sollen vorläufige Antworten in Form von Thesen gegeben werden, die anhand von Beispielen entwickelt bzw. gestützt werden sollen. Hierbei können aus Platzgründen die Beispiele nur genannt, aber nicht ausgeführt werden. Für Details muß auf die Literatur verwiesen werden. Der Vorteil
derartiger historischer Studien gegenüber Untersuchungen zur Motivation und zum
Denken bei heutigen Schülern oder heutigen Experten scheint mir darin zu liegen,
daß man über einen sehr langen Zeitraum über bereits eingetretene Effekte, über
den Erfolg und die Fruchtbarkeit solcher Komponenten für die Entstehung neuer
Mathematik Informationen bekommen kann. Mein Bemühen zielt daher darauf, die
empirische Basis zur Untersuchung kreativer Prozesse bei mathematischen Tätigkeiten
im Hinblick auf „Beobachtungszeit", „Umfang von Stichproben" aber vor allem
auch im Hinblick auf „Variantenreichtum" auszuweiten.
1.
Z.
B. sind bei derartigen Untersuchungen in natürlicher Weise die
„Befragungsmöglichkeiten" beschränkt. 2.
Man
ist hierbei - wie allerdings auch bei gewöhnlichen empirischen Untersuchungen -
auf Interpretationen angewiesen. Zu
berücksichtigen ist auch, daß sich die Vorstellungen
über Mathematik im Laufe der Zeit immer wieder geändert haben. Angemerkt
sei, daß sich schon Klix 1983 in
seiner „Entwicklungsgeschichte der menschlichen Intelligenz" mit ähnlichen
Fragen befaßt hat. 2. Über Motive zur Herstellung neuer MathematikWas hat seit frühesten Zeiten Menschen motiviert,
was kann sie veranlaßt haben, neue Mathematik zu erfinden? Motiv 1: Nutzen und Anwendung Eines der ältesten Motive zur Beschäftigung mit
Mathematik ist zweifellos die Bewältigung praktischer Lebenssituationen. Schon vor über 30000 Jahren wurden z. B. Tierknochen
in Südafrika und Zentraleuropa dazu benutzt, Zahlen zu markieren, um kalendarische
Daten festzuhalten oder die Anzahl erlegter Tiere zu dokumentieren[2]. Vor
über 5000 Jahren entstand in Mesopoamien die Keilschrift. In
dieser wurden z. B. erste Texte zur Wirtschaftsverwaltung verfaßt. In diesem
Zusammenhang wurden auch Anzahlen und Mengen durch Zahlzeichen festgehalten,
die sich oft je nach Bereich[3]
unterschieden. Es gab für die verschiedenen Einheiten Umrechungsfaktoren wie
10; 5 und 6, worin u. a. der Beginn erster Keimzellen für Stellenwertsysteme
gesehen werden kann. Es dauerte aber immerhin noch ca. 1000 Jahre, bis sich
zunächst das Sexagesimalsystem in Mesopotamien durchsetzte[4]. Einige
Zeit später fand in Ägypten eine ähnliche
Entwicklung statt. Schon in den „Historien" von Herodot (ca. 500 v. Chr.) kann man nachlesen, daß
insbesondere die jährlichen Nilüberschwemmungen[5]
Anlaß gaben, z. B. intensiver über Feldaufteilungen und damit zusammenhängende
Besteuerung nachzudenken. Dieses wird auch durch entsprechende Probleme im
„Papyrus Rhind" deutlich[6]. Es
ist klar, daß die stimulierende Wirkung lebensnaher Situationen zur Entstehung
neuer Mathematik bis heute nicht an Bedeutung eingebüßt hat. Motiv 2: Riten und Religionen Seit
frühester Zeit scheinen rituelle oder religiöse Motive nicht weniger wichtig
für die Entstehung neuer Mathematik gewesen zu sein. In diesem Zusammenhang
dürfte die neolithische Anlage von Stonehenge im Südwesten von London bekannt sein, die
wahrscheinlich aus dem 3. Jahrtausend vor Chr. stammt. Dieses Monument kann
interpretiert werden als geniale astronomische Kalenderanlage, die es z. B.
ermöglichte, passende Zeiten für die Feldbestellung aber auch für sich jährlich
wiederholende rituelle Feste vorherzubestimmen[7]. Die
Tradierung von Religion wie auch von archaischer Wissenschaft durch
Priesterkasten war im alten Ägypten wie auch Mesopotamien üblich[8].
Nach Schwaller de Lubicz 1962 war die alte
ägyptische Mathematik primär theologisch motiviert und hatte auch noch entsprechenden
Einfluß auf die folgende Zeit der Pythagoreer. Diese bildeten nach Hauser 1955 mehr als eine Schule;
nämlich eine „halbreligiöse Sekte, eine Art Bruderschaft oder Orden" (S. 54). Altarbauten zur Zeit der Veden in Indien[9]
waren ein wesentliches „Stimulans" für die Entstehung von Mathematik, speziell
von Geometrie. Dieses
ist insbesondere den Sulba-Sutra[10]
zu entnehmen[11]. Auch
beim bekannten Würfelverdopplungsproblem ging es um einen Altar, nämlich einen
solchen in Delos. Im
Islam spielte ebenfalls das Betreiben von Mathematik in Zusammenhang mit der
Lobpreisung von Allah eine große Rolle (bis heute!). Im
europäischen Mittelalter wurde Raimondus Lullus ohne sein Wissen zum
europäischen Mitbegründer der Kombinatorik. Seine systematischen Lobpreisungen
Gottes wurden nämlich für Leibniz ca. 400 Jahre später eine wesentliche
Grundlage seiner „Dissertatio de arte combinatoria"[12].
Hier fand eine ähnliche Entwicklung statt wie ca. 2000 Jahre vorher in Indien.
Auch in mythologischen Versen der Jaina sind mit systematischen Variationen von
Textteilen Grundlagen der Kombinatorik entwickelt worden[13]. Im
europäischen Mittelalter war z. B. der Kardinal Cusanus zugleich ein bekannter Mathematiker, der sich zum
Zwecke eines genaueren Gottesverständnisses mit der Quadratur des Kreises
beschäftigte[14]. Auch Kepler war bei seinen mathematischen
Forschungen oft stark religiös motivierten. Gleiches gilt nach eigenem
Bekenntnis auch noch für E. Kähler,
ein bekannter zeitgenössischer Mathematiker. Motiv 3:
Wiederholbarkeit und Sicherheit von Rechenverfahren (Algorithmen) Mit
dem Bestreben, reale Situationen mittels Mathematik zu bewältigen, war oft das
Verlangen verbunden, immer wieder vorkommende Berechnungen zu vereinheitlichen,
so daß diese von möglichst vielen Nutzern beliebig oft, bequem, vielfältig und
sicher eingesetzt werden können. Der Wunsch nach derartigen „Rezepten" ist
sicher auch heute nicht geringer geworden. Diesen kann man sich als ein
wichtiges Motiv zur Entwicklung von Algorithmen
vorstellen. Derartige
z. T. recht anspruchsvolle Rechenverfahren wurden schon in Mesopotamien und im
alten Ägypten entwickelt[15].
In China wurden Verfahren hervorgebracht, die z. T. in Europa erst 2000 Jahre
später wiederentdeckt wurden. Am bekanntesten ist sicher der „Gauß'sche Algorithmus"
zur Lösung Linearer Gleichungssysteme[16]. Diesem
Verlangen nach Sicherheit, bequemer Berechenbarkeit und beliebiger
Wiederholbarkeit kann heute dank Computer noch in einem viel größerem Maß
entsprochen werden. Das kann allerdings dazu führen, daß man dem Computer auch
ein unsinniges Resultat „glaubt", weil es ja mit präzisen Methoden zustande
kam! Motiv 4:
„Spieltrieb" Von
alters her gehört das Spielen zu den
Grundbedürfnissen der Menschen. Diese These wird z. B. durch die Tatsache
gestützt, daß in Ägypten und Mesopotamien Gräbern verstorbener Herrscher nicht
nur Lebensmittel und Kleidungsstücke sondern auch (Brett-)Spiele[17]
beigefügt wurden. Auch Würfelspiele und Glücksspiele waren im Altertum schon
bekannt.[18] Hierdurch
wurde z. B. die Grundlage der Wahrscheinlichkeitsrechnung gelegt[19].
Die geometrische Wahrscheinlichkeitsrechnung wurde von Buffon in der Mitte des 18ten Jahrhunderts ebenfalls durch
Probleme der Unterhaltungsmathematik begründet[20].
Die Graphentheorie entstand ungefähr zur gleichen Zeit durch das „Königsberger
Brückenproblem" von Euler[21]. Gewisse
Typen von Problemen der Unterhaltungsmathematik reizten über Jahrhunderte bis
heute immer wieder zur Auseinandersetzung hiermit. Hierzu gehören etwa das bekannte
„Problem der 100 Vögel" oder auch magische Quadrate.[22]
Motiv
5: Ästhetik Auch in diesem Fall findet man schon in Zeugnisse aus
Mesopotamien Verbindungen zwischen Mathematik und Kunst und damit auch ästhetische
Elemente. Z. B. die Tontafel BM 15285[23]
gibt Berechnungen von Flächeninhalte geometrischer Figuren wider, die viel
später auch als Elemente in islamischer Kunst und Architektur - vor allem als Ornamente
in Moscheen - wieder auftauchten. Beim Tempel- und Statuenbau in Ur und im
alten Ägypten wurden Elemente darstellender Geometrie entwickelt[24].
Der goldene Schnitt ist wohl das seit der Antike[25]
bekannteste Beispiel dafür, wie sich aus (europäischer!) Kunst und Ästhetik ein
Teilstück Mathematik entwickeln kann.[26]
Natürlich gibt es auch einen umgekehrten Einfluß. Die
intensive Beschäftigung mit dynamischen Systemen und fraktaler Geometrie in
jüngster Zeit ist sicher zum Teil auf die in diesem Zusammenhang produzierbaren
ästhetisch reizvollen Bilder zurückzuführen. Aber
auch das Streben noch Harmonie und „innerer"
Schönheit ist mindestens seit der Antike ein wichtiger Antrieb zur intensiven Beschäftigung
mit Mathematik[27]. Motiv 6:
Interesse an Methoden der Erkenntnisfindung; Heuristik Seit
frühesten Zeiten wurden Entdeckungsmethoden wie „Analogisieren", „schrittweise
Näherung" und „Rückwärtsarbeiten" i. a. unbewußt bei der Produktion neuer Mathematik
angewandt[28]. Ein weiteres intensives - und bislang wohl kaum bekanntes - Interesse an heuristischen Methoden ist im arabischen Sprachraum insbesondere im 10. Jahrhundert festzustellen: von Ibn al Haytham[31], Ibn Sinan[32] und al Sijzi[33] wurden ganze Lehrbücher zur mathematischen Heuristik verfaßt. Während es in den Büchern von Ibn al Haytham und Ibn Sinan vor allem um das Wechselspiel von Analysis und Synthesis geht (s. u.), hat sich al Sijzi mit über 7 verschiedenen heuristischen Strategien befaßt. Überdies hat er systematische Variationen von Problemen vorgenommen und diese zu ganzen Problemfeldern ausgeweitet[34], eine ganz aktuelle Thematik in Zusammenhang mit der Diskussion über eine „bessere Unterrichtskultur", die sich an TIMSS anschloß. In
der Renaissance kam es auch zu einer sehr eindrucksvollen „Wiedergeburt" des
Interesses an (nicht nur mathematischer) Heuristik. Viète, Descartes
und Leibniz sind wohl die
bekanntesten unter den zahlreichen Personen dieser Zeit, die sich um umfassende
Methoden zum Erfinden und Urteilen bemühten („ars inveniendi et judicandi").
Wie weit tatsächlich der Anspruch dieser Autoren ging, wird durch folgende
Äußerungen von Viète deutlich: „Schließlich nimmt die analytische Kunst ...
mit Recht das berühmte Problem der Probleme für sich in Anspruch, das ist: Kein
Problem ungelöst zu lassen."[35] Einen
ähnlichen Anspruch verfolgte Descartes mit
seiner „Méthode" und seinen
„Regulae ad directionem ingenii"[36].
Gleiches gilt auch für das Anliegen von Leibniz,
eine „characteristica universalis" zu entwickeln. Viète und Descartes knüpften
in besonderem Maße an die erwähnte Arbeit von Pappos
an und kamen so zu neuen mathematischen Erkentnissen und Methoden (von der
Buchstabenalgebra zur „analytischen Geometrie"). Leibniz entwickelte u. a. in seiner Schrift „De la Sagesse"[37]
die „Méthode" von Descartes weiter
und vor allem mit seinem Differential- und Integralkalkül eine sehr elegante und
effektive „lokale" Lösung seines Strebens nach einer characteristica
universalis. Auch E. Weigel,
zeitweise der Lehrer von Leibniz
an der Universität Jena, fühlte sich diesem Zeitgeist verbunden[38]. Wenn
auch Viète, Descartes und Leibniz mit ihrem umfassenden Anspruch nicht erreichbare
Ziele verfolgten, so kann festgehalten werden, daß doch dieser sie zu wesentlichen
produktiven mathematischen Beiträgen antrieb. Ähnliches
läßt sich über die Entwicklung der künstlichen Intelligenz mit Beginn der
fünfziger Jahre dieses Jahrhunderts sagen: So
war es natürlich nicht möglich, einen „general problem solver"[39]
zu entwickeln. Doch auch hier hat dieses hochgesteckte Ziel oftmals zu sehr
brauchbaren lokalen Lösungen (Expertensystemen) geführt. Motiv
7: Interesse an Methoden der Erkenntnissicherung;Beweise Das Streben nach Sicherheit mathematischer Erkenntnis und nach stichhaltigen Begründungen zeichnete die griechische Antike vor den mathematischen Betätigungen in anderen Kulturkreisen aus. Die „Elemente" von Euklid und die Arbeiten von Archimedes werden hierfür oft als repräsentativ angesehen. Sie prägten wesentlich mit den Stil heutiger mathematischer Arbeit Das Interesse an Begründungen war bei verschiedenen Völkern und zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich. So
findet man z. B. in den chinesischen „9 Büchern der arithmetischen Technik"
keinen einzigen Beweis. Hieraus kann aber nicht geschlossen werden, daß zu
dieser Zeit (ca. 150 v. Chr.) in China Beweise keine Rolle spielten, denn über
die Funktion dieses Buches sowie über mögliche Formen mündlicher Behandlung von
Mathematik wird hierin nichts gesagt. Einige
Zeit später (ca. 250 n. Chr.) wurden von Liu
Hui, einem Kommentator dieser Schrift, Begründungen zu hierin
enthaltenen Aussagen in Form geometrischer Arrangements gegeben
(„Tangram-Beweise"). Bei den Veden in Indien waren Beweisformen
stark mit religiösen Riten verzahnt, die wiederum mit Symmetrieprinzipien und
Handwerklichen Tätigkeiten verbunden waren.[40] In
der Renaissance
gab es z. B. bei de Vincento ein
Beweisverständnis, das eine Kette fortschreitender Verallgemeinerungen für
Begründungen eines zunächst an einem Spezialfall beobachteten Sachverhaltes
umfaßte.[41] Mit
Beginn des letzten Jahrhunderts brachte die
„Grundlagenkrise" der Mathematik über Boole,
Frege, Russel, Hilbert bis Gödel erhebliche
Fortschritte auf Seiten der Absicherung mathematischer Erkenntnisse. Dabei
wurden auch mathematische Logik weiterentwickelt. Hierzu kann auch die Tatsache
gerechnet werden, daß von Gödel[42]
mit Hilfe von Logik ihre Grenzen aufgezeigt wurden. Indirekt kann hierin eine
Rechtfertigung für eine Betonung der Wichtigkeit heuristischer Verfahren
gesehen werden. In
jüngster Zeit wurden wesentliche Teile von Beweisen mit Computerhilfe
durchgeführt (z. b. beim Vier-Farben-Problem und der Klassifikation einfacher
Gruppen). Motiv
8: Interesse an Systemen und Theorien Von
Euklid bis Bourbaki war es immer wieder ein
längerfristiges Ziel vieler Mathematiker, ihre Ergebnisse in umfassende
möglichst axiomatisch aufgebaute Systeme einzuordnen[43].
Logik, Einfachheit und Klarheit sind hierbei wesentliche „Steuerungselemente". Schon
die vorangegangenen Überlegungen zeigen, daß es auch andere Ordnungsprinzipien
mathematischer Erkenntnisse gibt: so kann man bei den Veden von einer dominierenden
religiösen z. T. auch literarischen und bei dem durch die „Neun Bücher
arithmetischer Technik" vermittelten Bild von einer „induktiven"[44]
Ordnung sprechen. Motiv
9: Interesse an herausfordernden Problemen Herausfordernde
Probleme gaben immer wieder Gelegenheit, Ehrgeiz, Stolz und das Streben nach
Anerkennung von Mathematikern auf die Probe zu stellen oder in manchen Fällen
auch zu befriedigen. Hierzu gehören die drei klassischen Probleme
Kreisquadratur, Würfelverdopplung und Winkeldreiteilung der Antike. Hierbei
erwies es sich sogar als glückliche Fügung, daß gerade diese Probleme in ihrer
ursprünglichen Form (Konstruktionen mit Zirkel und Lineal) sich als nicht
lösbar erwiesen. So wurden über Jahrtausende zwar nicht diese Probleme gelöst
bzw. letztlich als nicht lösbar nachgewiesen, aber es wurden im Rahmen von
Lösungsbemühungen Lösungen für ander oder verwandte Probleme gefunden. So wäre
wohl z. B. ohne die Herausforderung durch die Quadraturproblematik kaum die
Integralrechnung entstanden. Entsprechendes
gilt für das heute weniger bekannte von Pappos
erwähnte[45]
„Vier-Linien-Problem" von Aristaeos
und Apollonios, was nach ca. 2000
Jahren von Descartes[46]
gelöst wurde und damit seinen Ruhm wesentlich mit begründete. Hiermit wurde
aber bekanntlich auch die „analytische" Geometrie und u. a. die Theorie der algebraischen
Kurven begründet. Auch die umfangreichen Bemühung um die Lösung des
Vierfarbenproblems (z. B. von Heesch),
die schließlich Appel und Haken 1976[47]
gelang, brachte in der Graphentheorie große Fortschritte. Entsprechendes gilt
für das Fermatproblem, das über 350 Jahre mathematische Kreativität stimuliert
und das jüngst im wesentlichen von Wiles[48]
gelöst wurde.
3. Über besonders erfolgreiche Denkwerkzeuge für die Herstellung neuer MathematikPólya kommt das Verdienst zu, in
neuerer Zeit die grundsätzliche Bedeutung mathematischer Heuristik für das
Lösen von Problem hervorgehoben und dazu vorbildliche Beispiele und auch sehr
interessante theoretische Überlegungen[51]
vorgestellt zu haben.[52] Die Bedeutung und der Stellenwert heuristischer Methoden, wie
sie sich etwa anhand ihrer jeweiligen Wirkung und Fruchtbarkeit (=Potential,
„neue" Mathematik zu erzeugen) über 5000 Jahre in der Geschichte der Mathematik
äußert, wurde von ihm nicht untersucht. Von herausragender Bedeutung in diesem Sinne („Invarianten"[53]
bezgl. ihrer hohen Fruchtbarkeit) sind insbesondere: Analogisieren, Rückwärtsarbeiten (die klassische analytische
Methode), induktives Vorgehen, Methoden der schrittweisen Näherung (sukzessive
Approximation), Repräsentations(Modalitäts-)wechsel und Indivisibilienmethoden[54]. Aus Platzgründen kann hier nur exemplarisch kurz auf die
analytische Methode eingegangen werden. Sie
ist als „Analysis" seit dem
griechischen Altertum bekannt[55].
Sie läßt sich wie folgt grob charakterisieren: Man geht von der Annahme aus, daß Problem sei gelöst, der zu beweisende Satz sei wahr. Sodann werden aus dieser Annahme schrittweise Schlußfolgerungen gezogen bzw. es werden verifizierte oder verifizierbare Voraussetzungen gesucht, aus denen das jeweils Angenommene gefolgert werden könnte. Dieses geschieht so lange, bis man bei einer gesicherten Voraussetzung, etwas Gegebenem angelangt ist oder aber bei einem Widerspruch („reductio ad absurdum"), was die Unrichtigkeit der Ausgangsannahme ergibt. Bei diesem „rückwärtigem Voranschreiten" stößt man oftmals - ggf. auch durch Widersprüchlichkeiten - auf zusätzliche Bedingungen oder Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen (die Griechen sprachen von „Diorismen"[56]), damit das Problem lösbar oder der Satz beweisbar wird. Hieran schließt sich - falls kein Widerspruch aufgetreten ist bzw. die Voraussetzungen geeignet modifiziert wurden - die Synthesis, d. h. der Beweis oder die Konstruktion an, wobei von Voraussetzungen zur Behauptung, von Gegebenem zu Gesuchtem vorangeschritten wird. Auch in diesem Fall wurde schon in Mesopotamien implizit
diese Methode z. B. beim Lösen quadratischer Gleichungen verwendet, die wir
heute z. B in der Form x²+x=3/4 schreiben würden.[57] In der griechischen Antike wurde dann diese Methode in verschiedener Weise von Aristaeos, Platon, Euklid, Apollonios, Archimedes, Heron und vor allem sehr folgenreich von Pappos eingesetzt und weiterentwickelt. In den erwähnten Lehrbüchern zur Heuristik von al Haitham, Ibn Sinan und al Sijzi spielte die Analysis eine zentrale Rolle. Gleiches
gilt für die schon erwähnten Arbeiten von Viète,
Descartes und Leibniz, die
ganz wesentlich an die „analytische" Arbeit von Pappos anschlossen. Bei Leibniz
findet man außer der oben erwähnten noch mindestens 13 weitere Verstehensweisen
des Begriffes „Analysis"[58]. Die
Bedeutung dieser Methode kann man auch daran erkennen, daß auch heute noch ganz
Gebiete hiernach benannt sind.[59] Auch
das „backtracking" in der Informatik kann als Variante der analytischen Methode
gesehen werden. Welche didaktische Konsequenzen können sich
hieraus ergeben? ·
Man
kann an eine stärkere Akzentuierungen heuristischer Methoden wie z. B.
„Analysis" und „Analogie" im Mathematikunterricht und in der Lehrerausbildung
durch Auswahl hierzu passender Aufgaben und Probleme denken, die überdies auch
noch mit adäquater Häufigkeit im Unterricht einzusetzen wären. ·
Es
sollte überlegt werden, an welchen Stellen im Unterricht und zu welcher Zeit in
der Entwicklung der Schüler solche heuristische Methoden bewußtgemacht werden
können oder sollten. ·
Die
Schüler sollten bei passender Gelegenheit über Zusammenhänge zwischen Heuristik
und Logik nachdenken. 4. Rück- und Ausblick„Der Nutzen der Geschichte der Mathematik ergibt sich nicht nur daraus,
daß die zur Mathematik Beitragenden gewürdigt werden und andere später ähnliche
Anerkennung erfahren können, sondern ebenso daraus, daß die Kunst des
Entdeckens und das methodische Wissen durch prägnante Beispiele gefördert wird.[60]" Beispiele
konnten hier aus Platzgründen nur genannt, aber nicht ausgeführt werden. Die
Literaturverweise ermöglichen vielleicht weitergehende Studien. Im
übrigen sehe ich alle anderen Beiträge in diesem Band in ähnlicher Funktion wie
die von Leibniz gemeinten. Literatur Appel, K.; Haken, W.: The Four-Color Problem. In: Steen 1979. Archimedes: Werke: im Anh.:
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Übersetzt und mit Anmerkungen versehen von A. Czwalina. Sonderausg., 4.
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Rekonstruktionsversuche mathematischer Denk- und Lernprozesse anhand früher
Zeugnisse aus der Geschichte der Mathematik. In: Zimmermann 1995. [1] Siehe auch den Beitrag von Dörner in diesem Band! [2] Siehe Joseph 1991, S. 24. [3] Z. B. Menge von Getreide;
Zahl von Brotleibern; Größe von Feldern. [4] Alles nach Nissen/Damerow/Englund 1991; vgl. auch Zimmermann 1995a. [5] Herodot 1988, S. 289. [6] Siehe z. B. die Probleme 51-53 in Chace 1986. [7] Siehe Hawkins 1989. [8] Siehe z. B. Høyrup 1994. [9] Ca. 1500 bis 800 v. Chr. [10] Regeln zum Bau von Altären,
die primär religiösen Zwecken dienten. [11] Siehe z. B. Srinivasiengar 1988 sowie Seidenberg 1962. [12] Gerhardt 1978, S. 27ff. [13] Srinivasiengar 1988, S. 26f. [14] von Kues 1979. [15] Grundrechenarten; Verfahren zum Lösen quadratischer Gleichungen; vgl. z. B. Chabert 1994, Høyrup 1994. [16] Siehe z. B. Vogel 1968. [17] Z. B. den Königsgräbern von Ur. [18] Siehe z. B. Fittà 1998. [19] Siehe z. B. Schneider 1988. [20] Vgl. Cantor 1910, S. 634. [21] Vgl. Cantor 1910, S. 624ff. [22] Siehe Tropfke 1980, Chabert 1994 aber auch schon Mydorge 1639. Zur heutigen Rolle der spielerischen
Einstellung beim Betreiben von Mathematik siehe z. B. auch den Beitrag von Kießwetter in diesem Band. [23] Siehe Neugebauer 1935 S. 137-142. [24] Kaderávek 1992. [25] Bei Euklid wird dieser als „stetige Teilung" behandelt. [26] Siehe z. B. Pfeiffer 1885,
insbesondere S. 40 ff. [27] Siehe z. B. Steck 1945. [28] Siehe z. B. Zimmermann 1995a. [29] Siehe Jones 1986. [30] Z. B. viele der nach Pappos eher heuristischen Werke Euklids wie etwa die Porismen sind nicht mehr erhalten. Einige Fragmente wurden vor kurzem in arabischer Fassung entdeckt (persönliche Mitteilung von Frau Brentjes). [31] Siehe ibn al-Haytham 1991. Als Beispiel für die Wirksamkeit der analytischen Methode (siehe 3.) befaßte er sich hierin u. a. mit der Umkehrung des Satzes über vollkommene Zahlen bei Euklid. „Offiziell" wurde der Beweis hierfür erst 800 Jahre später von Euler durchgeführt. [32]Siehe z. B. Bellosta 1991. [33] Siehe z. B. Hogendijk 1996. [34] Siehe z. B. Brentjes/Zimmermann 1999.Auch Kießwetter stellt in diesem Band exemplarisch vor, welche Möglichkeiten es gibt, Problemfeldern zu entwickeln. Diese Thematik ist aktuell in Zusammenhang mit der Diskussion über eine „bessere Unterrichtskultur", die sich an TIMSS anschloß. [35] Viète
1973, S. 61. [36] Siehe Descartes 1973, 1986. [37] Siehe Gerhardt 1890, S. 81ff. [38] Siehe Weigel 1693. [39] Siehe z. B. Newell/Simon 1972. [40] Siehe Michaels 1978. [41] Siehe Dhombres 1993. [42] Unvollständigkeitssatz der Prädikatenlogik zweiter Stufe. [43] Siehe auch die Ausführungen von Kießwetter zu Theoriebildungsprozessen in diesem Band. [44] Die „Neun Bücher
arithmetischer Technik" sind so aufgebaut, daß in jedem Kapitel durch eine
Sequenz von Aufgaben nebst Lösung eine bestimmte Bearbeitungstechnik für diesen
Aufgabentyp (ausschließlich) implizit beschrieben wird. [45] Siehe Jones 1986, S. 120, Nr. 36; Descartes
1969, S. 10ff. [46] Descartes 1969, S. 10ff. [47] Siehe Appel/Haken 1979. [48] Siehe z. B. Singh 1998. [49] Siehe Leibniz 1980, Nr. 49, S. 428ff. [50] Siehe Knobloch 1971. [51] Siehe seine „Logik des plausiblen Schließens", auf die Kießwetter in diesem Band eingeht. [52] Siehe z. B. Pólya 1963, 1969. [53] Siehe auch den Beitrag von Klix in diesem Band. [54] Siehe hierzu Zimmermann 1990. [55]Die älteste gesicherte Beschreibung findet man bei Aristoteles 1967, 1112b 10 - 27, S 107. Die „Definition" in Euklid 1980, S. 386 wurde vermutlich erst viel später von Heron eingefügt. Die ausführlichste und beste Beschreibung der „Analysis" findet man bei Pappos. Vgl. Jones 1986, S. 82ff. Die hier gegebene Charakterisierung lehnt sich hieran an. [56]Siehe z. B. Jones 1986, S. 382. [57] Überhaupt beinhaltet jedes moderne (und schulische) Gleichunglösen Rückwärtsarbeiten: Man „tut" immer so, als hätte man die gesuchte Unbekannte (x, y,...) schon, denn andernfalls könnte man gar nicht rechnen! Falls sich ein Widerspruch ergibt, war die Annahme falsch, daß es überhaupt z. B. ein x gibt, das die Gleichung erfüllt. Die Gleichung ist also dann unlösbar. [58] Siehe Zimmermann 1991. Darunter auch die heute übliche Verstehensweise „analysieren=gedanklich zergliedern, zerlegen". [59] Außer der schon erwähnten „Analytische Geometrie" die „Analysis", analytische Zahlentheorie usw. [60] Zitat von Leibniz aus: "Historia et origo de calculi differentialis", in Gerhardt 1858, S. 392. |
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